Vision der Gemeinschaft

Dritter Artikel in der Serie Diana Leafe Christian – «Creating a Life Together: Practical Tools to Grow Ecovillages and Intentional Communities» – Zusammenfassung, Kommentare und Reflexionen

Kapitel 4 – Vision

Warum bilden wir eine Gruppe? Worauf kommt es uns an? Wie passen wir in unser Umfeld? Die Vision muss geklärt und aufgeschrieben werden, und alle Mitglieder müssen der Vision zustimmen. Ansonsten sind getäuschte Erwartungen und ätzende Grundsatzdebatten vorprogrammiert.

Eine fehlende Vision kann in Krisensituationen die Gruppe sprengen oder über lange Zeiträume Miss­ver­ständnisse und Feindseligkeiten aufgrund divergierender Zielvorstellungen erzeugen.

Die Vision schafft Klarheit, Verlässlichkeit, Haltung und gibt Energie. Sie ist der Grundton der die Gruppe in eine harmonische Schwingung versetzt. In der Vision wird auch konkret, wie die Gruppe Idealismus mit Pragmatismus verbindet.

Die Elemente der Vision sind:

  1. Die Vision selbst, ausgedrückt im „wer, was, wann, warum“: unser Idealzustand im Rahmen dessen, was wir für möglich halten – z.B. eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten die bis ins Alter zusammen wohnen und ihre Ideen und Erfahrungen den jüngeren Generationen weitergeben.
  2. Unsere Mission: Was materiell entstehen wird: In Neuruppin, ein ansprechendes, qualitativ hochwertiges und naturnah gebautes Wohnhaus mit multifunktionalen Gemeinschaftsräumen und attraktiven gemeinsam genutzten Freiflächen, potentiell als Modellprojekt für weitere Gemeinschaften („Regionalstätten“).
  3. Werte: Die Basis unserer Vision, ausgedrückt als Verhaltensweisen. Das was uns wichtig ist wollen wir verwirklicht sehen, und stärken wo in der gegenwärtigen Gesellschaft Mangel sehen. Beispiele für unser Neuruppiner Projekt: Gemeinschaftlichkeit, Wertschätzung, Schutz der Naturfunktionen und Nutzung regionaler Ressourcen bei Wahrnehmung ihrer Identität.
  4. Interessen: Spezifische Erfahrungen und Kenntnisse, die von Relevanz für die Gemeinschaft sind, z.B. Wasserkreislaufführung, Terra Preta, Holzständerbauweise, Lehm- und Kalkputze, erneuerbare Energie.
  5. Ziele und Absichten: messbare Meilensteine die die Gruppe für die nächsten Monate bis wenige Jahre festlegt und gezielt erreichen will, z.B. Richtfest, Einzug, das erste gemeinsame Fest oder die erste überregionale Veranstaltung. Ziele können mannigfaltig, kleinteilig und zeitlich aufgereiht sein.
  6. Bestrebungen: Ideale die wir aufgrund unserer Werte anstreben, z.B. die komplette Unabhängigkeit von der Schwemmkanalisation, ein ausgebuchter Seminarraum oder die komplette Versorgung mit Strom und Wärme aus erneuerbarer Energie.
  7. Strategie: Das „wie, wo und wann“ zum „wer, was, wann, warum“ der Vision. Hier stecken Zeitpläne und Budgets drin. Es handelt sich um den Weg, den wir zum Erreichen der Vision für den effektivsten und produktivsten halten. Die Strategie kann sich komplett verändern wenn wir einen „besseren“ (in aller Regel direkteren) Weg finden, bei unveränderter Vision. Ändert sich hingegen die Vision, muss die Strategie auch umgeworfen werden.

Obwohl die Vision die Grundschwingung ist, schwingt sie sich zusammen aus den kombinierten Werten, Interessen, Bestrebungen und Ziele der Gruppe.

Manche Gemeinschaften haben die Vision in einem eigenen Dokument wohlklingend festgehalten; andere Gruppen haben mehre Dokumente wie Leitbild, Objektbeschreibung, Entwicklungspläne, Abmachungen und Verträge, auch die durch die Organisationsform bedingten, insofern sie gemeinsame Wertvorstellungen enthalten. Aus dem Zusammenhang dieser Dokumente geht in diesen Fällen die Vision hervor.

Wichtig ist auch eine kurze, eindeutige Formulierung der Vision („vision statement“, also unser „Aushänge­schild“ oder „Klappentext“), die allerdings nicht mit der Vision selbst verwechselt werden sollte, die reich und komplex ist. Den „Klappentext“ kann man sich vorstellen wie ein Schild am Eingang zum Gebäude oder auch ideell am Eingang zum Bauprojekt, also die Aussage die neue Mitglieder zuerst sehen, und woran sie mühelos entscheiden können sollen ob sie interessiert sind oder nicht. Es steckt dort in aller Kürze (20-40 Worte) drin worum es uns geht, es beruht auf der Geisteshaltung unserer Vision, und hilft uns zu erinnern, zu besinnen und zu begeistern.

Zum Ende hin betont Diana, dass die Formulierung der Vision unbedingt zu Anfang der Gemeinschafts­bildung geschehen sollte, um Disparitäten und gegenläufige Erwartungen zu verhindern.

Kapitel 5 – Die Vision festhalten

Anregend und heikel zugleich ist die Definition der Vision für jede Gemeinschaft, weil die Mitglieder unterschiedliche Ideen und Erwartungen haben, praktische oder ideelle. Diana empfiehlt sich hierfür Zeit zu nehmen, viel aufzuschreiben und Techniken anzuwenden (mehr dazu später in diesem Artikel). Je nach Gruppengröße kann dieser Prozess Jahre dauern! Es geht ja aber um die Prämissen auf denen die Gruppe fußt, um ihr Rückgrat, die Festlegung der Richtung in die man zusammen gehen will, daher sollte die Vision nicht übergangen oder lapidar behandelt werden.

Je kleiner die Gruppe, umso schneller kann die Vision destilliert werden. Alle Mitglieder, auch später hinzukommende, sollten jedoch ein Mitspracherecht haben, ansonsten identifizieren sie sich womöglich nicht vollständig mit der bestehenden Vision.

Wenn sich eine konsistente Vision nicht aufstellen lässt, könnte es sein dass die Gruppe sich entweder besser aufteilen sollte, oder die Leute aussteigen müssen die sich nicht mit der Vision anfreunden können, wobei im Gegenzug neue Teilnehmer hinzukommen können die von der Klarheit und Schlüssigkeit der Vision angezogen werden.

Unterschiedliche Sichtweisen können die Vision aber auch bereichern. Widerstrebende Modelle können weiterhin in zwei Unterabteilungen gemeinsam verwirklicht werden.

Eine große Versuchung ist, es allen recht machen zu wollen, gerade in großen Gruppen. Hierdurch entstehen jedoch „Einheitsgrößen“- oder Allgemeinplatz-Visionen, die wenig verbindende und inspirierende Kraft generieren. Je spezifischer die Vision, umso attraktiver ist sie auch für die Leute die am besten dazu passen.

Jedes Mitglied der Gruppe sollte sich über seine oder ihre individuelle Vision klar werden, und dann kann die Gruppe abgleichen. Niemand sollte zurückstecken.

Es ist eine beseelte Zeit, wo Menschen sich über ihre ureigensten Wünsche klar werden und ihrer Verwirklichung näher kommen, Gleichgesinnte oder zumindest ähnlich gesinnte sich finden und möglicherweise zunächst einmal vor ihrer Macht oder der Fülle der Möglichkeiten erschrecken, dies dann aber hoffentlich bald in positive Energie umwandeln.

Was ist Gemeinschaft?

Gemeinsame Ziele, Aktivitäten, Werte, oder der Wohlfühlfaktor? „Gemeinschaft“ beschwört Bilder und Visionen von Heimat oder „heimisch“ fühlen, Angenommensein, von Familie oder engem Freundeskreis herauf. Das ist wunderbar, nur sollten keine unrealistischen Erwartungen darüber entstehen was eine Baugruppe leisten und darstellen kann. Der Visions-Definitions-Prozess kann und sollte verborgene Erwartungen ans Licht bringen und evaluieren. Psychologie spielt immer mit hinein, aber die Gruppe wird in den meisten Fällen keine Therapie- oder Selbsterfahrungsfunktion erfüllen wollen.

Sieben Techniken/Übungen

Diana bietet sieben Übungen oder Techniken um den Visions-Findungs-Prozess zu strukturieren. Alle dienen der Definierung einer Vision die folgenden Anforderungen gerecht wird:

Unsere gemeinsame Vision:
  • ist die gemeinsame Zukunft die wir herstellen wollen
  • gibt unsere zentralen Werte zu erkennen 
  • jeder von uns kann sich damit identifizieren
  • hilft uns unsere Energien zu bündeln
  • ist unsere Grundlage auf die wir uns immer beziehen können
  • gibt uns fortwährend Inspiration
#1 individuelle Werte, Gruppenwerte

Alle Gruppenmitglieder schreiben fünf (oder wenn nicht fünf dann so viele wie möglich) 2-3-seitige Erinnerungen an Situationen in ihrem Leben auf, in denen sie sich in Gemeinschaft besonders wohl gefühlt haben, z.B. Familie, Ferienlager, Ausflüge mit Freunden, Studentenheime, WGs, politische, therapeutische, künstlerische, sportliche Gruppierungen, Arbeitsstellen; Gemeinschaften jedenfalls wo sie sich zuhause gefühlt haben und/oder froh waren dabeizusein, und eine Verbundenheit mit den anderen gespürt haben. Die Berichte sollten unter dem Blickwinkel geschrieben werden wie sich die Teilnehmer gefühlt und was sie gedacht haben, nicht so sehr was genau geschehen ist. Ruhe und Konzentration sollten zum Schreiben geboten werden.

In Dreiergruppen werden die Geschichten dann verlesen, und kommentiert bezüglich der Merkmale, die die Qualität der Gruppe ausgemacht haben. Diese Merkmale werden gesammelt und kategorisiert wie es sich ergibt. Die Teilnehmer vergeben dann nach persönlicher Präferenz Punkte an die Kategorien sowie individuelle Merkmale. Dann wird sichtbar wie einhellig oder verteilt die Werte sind.

#2 eine simplere Variante von #1

Schneller und einfacher aber auch weniger reichhaltig als bei #1 können ähnliche Ergebnisse auch wie folgt erreicht werden: alle Teilnehmer beantworten individuell auf Post-it Notes die Fragen „Welche Werte sind ihnen für Gemeinschaft wichtig?“ und „Welche Werte teilen wir ihrer Ansicht nach?“ Dann folgt wie in #1 die Punktewertung und Übersicht.

#3 Brainstorming

Hier werden die Werte dem Moderator zugeworfen und mitgeschrieben, offen und zunächst ohne Kritik oder Filter, gefolgt von derselben Punktwertung wie in #1 und #2. Dies ergibt einen Schnappschuss der Stimmungen, die sich im Verlauf des Visionsbildungsprozesses ändern können.

#4 Grundfesten

Jeder schreibt seine Kernerwartungen auf, die unabdingbar für die eigene Teilnahme am Gemeinschafts­projekt sind. Die Listen werden verlesen und mitgeschrieben. Disparitäten zeigen sich. Dies ist eine besonders erhellende Methode um unsere Prioritäten und Grundverständnisse von Gemeinschaft zu verstehen und abzugleichen. Wiederum legt Diana die Wiederholung der Übung zunächst inmitten und dann gegen Ende der Visionierung nahe, weil die Unabdingbarkeiten sich erstaunlich wandeln können.

#5 Eine Linie ziehen

Gut wir alle unterstützen eine „ökologische Lebensweise“, aber was heißt das für uns und wie weit geht der einzelne? Die Gruppenteilnehmer schreiben hierfür konkrete Verhaltensweisen auf die ihrer Meinung nach unter die gewählte Überschrift fallen. Am Beispiel „ökologische Lebensweise“ könnte das heißen, von „Müll trennen und kompostieren“ und „Bio-Lebensmittel kaufen“ über „Ökostrom kaufen“ und „vegetarisch essen“ bis hin zu „Trockentoiletten installieren“, „ausschließlich wiederverwertete Baumaterialien verwenden“ oder „Strom komplett vor Ort erzeugen“. Jetzt werden wiederum Punkte verteilt je nach den Verhaltensweisen, die ein Mitglied nicht nur theoretisch unterstützt sondern erklärtermaßen selber an den Tag legen würde.

Gemeinsame Werte und damit verbundenes Engagement können so klarer herausgearbeitet werden, und Übereinstimmungen oder Divergenzen im Verständnis treten zutage – besser jetzt als später.

#6 Meinungsbild

Gerade bei strittigen oder heiklen Themen oder Entscheidungen hilft ein Pegelmesser: die Teilnehmer vergeben auf anonymen Zettelchen Zahlen von 1 bis 9, bei der 1 „dagegen“ bedeutet, 5 „neutral“ und 9 „Fürsprecher“. Die Zettel werden gesammelt und auf einer horizontalen Linie eingetragen. Das Bild das sich ergibt hilft allen: zu sehen wie die Gruppe übereinstimmt, ob einzelne gegenüber der Mehrheit in einem anderen Extrem liegen (und diejenigen können dann ohne Gesichtsverlust überlegen wie sie damit umgehen wollen), oder ob die Gruppe polarisiert oder unentschlossen ist.

#7 Versteckte Erwartungen

Aus der Kunsttherapie geborgt richtet sich diese Übung vorrangig ans Unterbewusste. Fragen werden schriftlich beantwortet, aber mit dem Stift in der „falschen“ Hand (also bei Rechtshändern in der Linken und umgekehrt). Die Methode funktioniert durch das schnelle schreiben mit der ungewohnten Hand mit möglichst wenig bewusstem nachdenken. Die Ergebnisse können je nach Offenheit und Vertrauensbasis geteilt werden, in jedem Fall helfen sie den Teilnehmern, ihre eigenen verborgenen Erwartungen zu identifizieren. Die Fragen sind, u.a.:

  • Was wünschst du dir mehr als alles andere für dich selbst?
  • Was wünschst du dir mehr als alles andere für die Welt?
  • Was macht dich verrückt?
  • Wenn du etwas in deiner Kindheit verbessern könntest, was wäre es?
  • Was brauchst du um dich sicher zu fühlen?
  • Welche Gemeinschaft möchtest du?

Niemand muss seine Antworten preisgeben. Freiwillige können berichten wie es ihnen dabei gegangen ist und welche Einsichten sie hatten. Es geht primär darum unbewusste Erwartungen zu erkennen, nicht unbedingt sie mitzuteilen und abzugleichen. Es kann die Teilnehmer motivieren, die persönlichen Wünsche durch ihr eigenes Verhalten zu fördern.

Prekär wird es wenn Gruppenmitglieder komplette Harmonie, vollkommene Brüderlichkeit / Schwester­lichkeit oder unbedingte Akzeptanz erwarten. Einzusehen was unrealistisch ist kann jedem einzelnen helfen. Die Vision wird dann bodenständiger.

Die sieben Methoden können variiert und kombiniert werden. Beim Widerholen von #3 und #4 können Trends sichtbar werden, ob die Gruppe sich angleicht oder verschieden positioniert. #5 und #6 können jederzeit angewendet werden, wenn eine Entscheidung hergestellt werden soll und aller Meinungen gehört werden sollen.

Alle Mitschriften sollten aufbewahrt (abfotografiert) werden.

Diese Gruppendiskussionen bringen unschätzbare Einsichten zutage, fördern Zusammenhalt, kristallisieren die gemeinsame Zielsetzung, haben Tiefgang und sind obendrein, mit einem guten Schuss Humor auch oft unterhaltsam.

Wenn Einzelvisionen unvereinbar sind (z.B. der eine will ein künstlerisches Kaffeehaus, der andere eine Suppenküche für Obdachlose), kann offen diskutiert werden ob der eine oder der andere von seiner Vision abrücken will und sich auf die Vision des anderen einlassen will.

Zusammenfassend, sollten je nach Absicht die folgenden Überschriften über dem Visionsfindungs-Prozess stehen:

Unsere Visions-Dokumente
  • Können Vision, Mission und Ziele enthalten
  • Vision: die gemeinsame Zukunft die wir erschaffen wollen
  • Mission: Was wir machen werden um die Vision zu verwirklichen
  • Ziele: kürzerfristige Meilensteine die wir für uns festlegen
  • Visions-Kurzfassung
Die Kurzfassung
  • Drückt unsere Vision und Mission/Kernabsicht aus
  • Kurz und bündig, klar und überzeugend
  • 20-40 Wörter
  • einfach zu behalten (Gruppenmitglieder sollten sie am besten auswendig können)
  • Hilft die Vision wachzurufen
  • Was Externe und neue Mitglieder zuerst sehen

Die Kurzfassung kann von jedem Mitglied individuell vorab geschrieben werden, und dann gemeinsam ab- und angeglichen.

Wenn die Vision im Konsens entwickelt und beschlossen wird, baut dies die gemeinsame Kultur der Wertschätzung auf und fördert Vertrauen. Entweder es entsteht eine schlüssige einheitliche Vision, oder es entstehen eben mehrere, in der mehrere Gemeinschaften angelegt sein können. Andererseits kann Konsens einen Visionsbildungsprozess auch enorm aufhalten oder gar zu Fall bringen. Schließlich konvergieren wir ja gerade erst auf gemeinsame Absichten und Ziele, und es kann noch nicht vorausgesetzt werden, dass alle auf derselben Wellenlänge funken. Einige erfahrene Gemeinschaftsgründer schlagen deshalb in dieser Phase Mehrheitsentscheidungen z.B. von 75% vor. Letztendlich müssen sich alle aber in der Vision wiederfinden, und es sollte für alle erfahrbar den Beginn des gemeinsamen Weges darstellen.

 

Hinweis: bei dieser Artikelserie handelt es sich um eine freie Übersetzung mit weitergehenden Kommentaren und Anmerkungen im Hinblick auf unser Bauprojekt, die nicht also solche gekennzeichnet sind. Die Lektüre des Originals von Diana Leafe Christian wird empfohlen (auch auf amazon.de verfügbar, aber nur Englisch, eine deutsche Übersetzung liegt meines Wissens nicht vor).